Louise Bauer

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TIME AFTER TIME

Jedes Kunstwerk ist die Summe unzähliger Entscheidungen. Es beginnt mit einem Punkt oder Strich. Es folgt ein zweiter, dann ein dritter, vierter usw., bis das Werk vollendet ist und die Künstlerin entscheidet, dass es keine weitere Entscheidung mehr braucht. In diesem Sinne kann die Arbeit an einem Kunstwerk nicht nur als Ausübung künstlerischer Freiheit verstanden werden, sondern auch als ein Prozess kontinuierlicher Selbstbeschränkung: Das weiße Blatt Papier enthält noch unendlich viele Möglichkeiten, das fertiggestellte Kunstwerk keine einzige mehr.

Überlegungen wie diese sind hilfreich, wenn man sich den Arbeiten von Louise Bauer nicht nur betrachtend, sondern auch konzeptuell-verstehend nähern will. Ihre Bilder zeigen nämlich nicht nur das Ergebnis einer Aneinanderreihung von Punkten und Strichen, die sich zu raffinierten Flächen aufaddieren. Sie zeigen auch den Prozess ihrer Entstehung selbst. Anders als das fertige Bild ist dieser Prozess nicht so sehr Sache des Raumes als eine Sache der Zeit. Der Titel der Ausstellung Time after time (übersetzt in etwa: Immer wieder) spielt darauf an. Das Repetitive, scheinbar Ineffiziente, das darin zum Ausdruck kommt, charakterisiert die Arbeitsweise von Bauer in allen hier gezeigten Arbeiten. Statt das weiße Blatt Papier mit breiten Pinselstrichen zu füllen, setzt sie in mühsamer Kleinarbeit Punkt an Punkt und Strich an Strich. Dabei greift sie vor allem auf klassische Schreibutensilien wie Marker und Buntstift zurück. Ihren Bildern verleiht das eine textuelle Qualität, eine Art grafischer Struktur, die nicht nur angeschaut, sondern auch gelesen werden will.

Bei alldem verfolgt Bauer kein standardisiertes Programm, das einmal in Gang gesetzt zu ähnlichen Ergebnissen führen würde. Stattdessen lässt ihr Ansatz einen weiten Spielraum künstlerischer Freiheit zu, im Großen wie auch im Kleinen. Jedes ihrer Bilder erzeugt deshalb eine eigene Wirkung, die immer wieder neu gesehen und gedeutet werden kann.

Der Hintergrund der Arbeit lila am pool z. B. wirkt auf den ersten Blick wie ein wohlgeordnetes Mosaik. Sieht man jedoch genauer hin, lässt sich feststellen, dass die vermeintliche Ordnung keiner erkennbaren Regel folgt. Die Künstlerin hat sich beim Setzen jedes einzelnen Punktes also immer wieder neu für eine der sechs Farben entschieden. Dieser zeitintensive Prozess wird mit den breiten und scheinbar locker geführten Pinselstrichen im Vordergrund des Bildes kontrastiert. Bauer scheint damit das gesamte Spannungsfeld künstlerischer Produktion abzustecken: Kontrolle und Entscheidungsfreiheit einerseits, Effizienz und Zufall andererseits.

Eine ganz andere Wirkung erzielt grün zusammen, die älteste der hier gezeigten Arbeiten. Mit zwei Markern hat Bauer vom oberen und unteren Bildrand her Bahnen in Richtung Mitte gezogen. Dabei sehen wir nicht nur, wie es in der Wiederholung des Immergleichen zu kleinen und kleinsten Abweichungen kommt. Was wir auch sehen – oder vielmehr: bei was wir zusehen, ist die fortschreitende Erschöpfung des Materials selbst. Die beiden Marker verlieren mit jeder Bahn an Farbe. Sie werden blasser und blasser, bis sie sich im Moment des Aufeinandertreffens auflösen und ineinander übergehen, ein Prozess, dessen Ergebnis nicht nur an die Stofflichkeit eines fein gewebten Tuches erinnert, sondern auch an den Stoff einer Geschichte, die man wieder und wieder lesen möchte.

Clemens Espenlaub, 2022

 

 

 

WEG IM ZIEL – Arbeiten zwischen Struktur und Dynamik

Parallelität. Gleichzeitigkeit. Parallele Linien. Parallele Leben.

Man könnte sagen, mit einem Textmarker Linien zu zeichnen bis der Textmarker leer ist, ist
keine Kunst – Das ist Dilettantismus. Hier gilt es auf einer Grenze zu balancieren.
Zentrales Merkmal in Louise Bauers Zeichungen sind – und das ist nur scheinbar banal –
Linien, Punkte, Striche.
Louise Bauer verdichtet diese Linien, Punkte und Striche bis aus den grundlegendsten
Mitteln der Zeichnung Malerei wird.
Chaos. Zufall. Störungen. Gegenläufige Strömungen. Angst. Intuition
Klar. Man kann das Leben als Linie begreifen. Die Linien sind aber meist gebrochen. Da
gibt es Flecken. Da gibt es Zufall. Da gibt es Formen. Da gibt es schemenhafte Objekte
und Gestalten die hinter den Linien und manchmal in den Linien selbst liegen. Dabei sind
die Störungen nie konkret. Material, Ursache und Wirkung sind oft schwierig
auszumachen. Die Störungen sind auch nie vom Hintergrund losgelöst. Struktur und
Chaos interagieren und bilden ein Gesamtwerk. Ohne die Störung in der Struktur ist auch
keine Struktur mehr auszumachen. Louise Bauers Werk ist ein Balanceakt zwischen
Zwang und Intuition. In einem sensiblen täglichen Arbeitsakt lotet sie den Raum zwischen
Strukturen und Dynamik aus, untersucht Effekte von Wiederholung und Akribie und
inspiziert die Grenzen zwischen Zeichnung und Malerei.
Formen. Einheit. Ästhetik.
In einem Bild gilt es Hintergrund und Vordergrund gleichzeitig zu betrachten. Fallen
Hintergrund und Vordergrund auseinander bleibt banales Chaos. Das ist in Louise Bauers
Werk jedoch nie der Fall. Struktur und Störung bilden immer eine ästhetische Einheit. Man
kann die Bilder einfach anschauen. Kein Problem. Sie drängen sich nicht auf. Aber sie
lassen einen auch nicht einfach los.
Bilder werden gemalt
So banal wie alltäglich sind die Materialien: Leimfarbe, Kohle, Textmarker, Gouache,
Bleistift und Tee. Filzstisft, Kugelschreiber. Manchmal hat ein anderer den ersten Strich
gemacht. Spielt es eine Rolle wie ein Gemälde entstanden ist? In welcher Stimmung war
die Künstlerin? Was ist gemeint? Wichtig und unwichtig zur selben Zeit. Fragen stellen
sich und stehen im Raum wie die feinen Unterschiede zwischen den einzlenen Linien.

Jonas Schug, 2020

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TIME AFTER TIME

Every piece of art is the sum of countless decisions. It begins with a point or a stroke. It is followed by a second, then a third, fourth, and so on, until the work is completed and the artist decides that no further decision is needed. In this sense, working on a piece of art can be understood not only as an exercise of artistic freedom, but also as a process of continuous self-restraint: the white sheet of paper contains an infinite number of possibilities, the completed piece of art no longer contains a single one.

Such considerations are helpful if one wants to approach Louise Bauer’s works not only by looking at them, but also by understanding them conceptually. After all, her paintings show not only a sequence of points and strokes that add up to refined surfaces. They also show the process of their creation itself. Unlike the finished picture, this process is not so much a matter of space as a matter of time. The title of the exhibition Time after time alludes to this. The repetitive, seemingly inefficient nature expressed in it characterizes Bauer’s working method in all the works shown here. Instead of filling the white sheet of paper with broad brushstrokes, she carefully places point after point and stroke after stroke. In doing so, she primarily uses classic writing tools such as markers and colored pencils. This gives her paintings a textual quality, a kind of graphic structure that not only wants to be looked at, but also be read.

In all of this, Bauer does not follow a standardized program that, once set in motion, would lead to similar results. Instead, her approach allows a wide scope of artistic freedom. Therefore, each of her pictures creates its own effect, which can be seen and interpreted in various ways.

The background of the work lila am pool, for example, appears at first glance to be a well-ordered mosaic. If one looks more closely, however, it can be seen that the supposed order does not follow any recognizable rule. Thus, the artist had to choose one of the six colors every time she made a point. This time-consuming process is contrasted with the broad and seemingly loosely guided brushstrokes in the foreground of the painting. Bauer thus seems to illustrate the entire field of artistic production: control and freedom on the one hand, efficiency and chance on the other.

A completely different effect is achieved in grün zusammen, the oldest of the works shown here. With two markers, Bauer has drawn lines from the upper and lower edges of the picture towards the center. In the process, we not only see how the repetition of the same thing results in small and minute variations. What we also see is the progressive exhaustion of the material itself. The two markers lose color with every line. They become paler and paler until, at the moment they meet, they dissolve and merge into one another. It is a process that results not only in the texture of a finely woven sheet, but also in the texture of a story that one can read over and over again.

Clemens Espenlaub, 2022

 

 

WORKING THE WAY –  between structures and dynamics

Parallelism. Simultaneousness. Parallel Lines. Parallel Lives.
It could be said that to draw a line with a marker pen until that marker pen runs out of ink is not art, but Dilettantism. But these are fine lines. A central theme in Louise Bauer’s drawings are – which only seems banal – lines, dots, dashes. She
refines them until, from these basics of the craft of drawing, painting is formed.
Chaos. Coincidence. Disruptions. Crossed Currents. Fear. Intuition.
Sure it’s possible to see life linearly. But lines are often broken. And it is in these breaks where you find the blemishes. There you find coincidence. You find form. You find shadowy objects and shapes hidden behind the lines, and sometimes within the lines themselves. Therefore disruptions are never defined. Materials, cause and effect are often difficult to distinguish. Disruption is never separate from its background. Structure and chaos combine to create a whole. Without disruption to it, there is no way to distinguish structure. Louis Bauer’s work is a balancing act between compulsion and intuition. In a carefully routined working rhythm she levels the space between structure and dynamics. She examines the effect of repetition and meticulousness and explores the boundaries between drawing and painting.
Form. Union. Aesthetic.
A painting’s background and foreground should be viewed simultaneously. Considered separately you’re left with mundane chaos. However, this is never the case in Louise Bauer’s work. Structure and disorder always create an aesthetic unity. You could simply look at her pictures. No problem. They don’t force you otherwise. But they also don’t easily let you go.
Pictures are painted
The materials used are as common as they are mundane: Distemper, charcoal, marker pen, Gouache, pencil and tea. Felt-tip pen, biro. Sometimes someone else draws the first line. Does it matter how the painting was made? In which mood the artist was in when it was painted? What does it mean? Important and irrelevant at the same time. Questions are asked and remain present in
the room like the small differences between each individual line.

Jonas Schug, 2020

translation Sean Collins, 2021